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Mother Tongue - Mother Tongue

Mother Tongue - Mother Tongue (1994, Sony Music) CD
Wir schreiben das Jahr 1992. Ich bin 8 Jahre alt, Grunge ist DAS Ding schlechthin. Eine junge Band namens Mother Tongue, ein Jahr zuvor aus dem Nirgendwo von Texas nach LA gezogen, macht in der neuen Heimat mit stundenlangen Instrumentalimprovisationen auf sich aufmerksam. Nach einigen Line-up-Wechseln stellt sich schließlich Bassist Davo vors Mikro. Es zahlt sich aus: Mother Tongue bekommen einen Majordeal und nehmen ihr gleichnamiges Debüt auf.
Selten zuvor hat eine Band Depression so intensiv vertont wie sie. Mother Tongue transportieren dieses Gefühl mit einem prädestinierten Vehikel: Dem Blues, den sie in ein so nie gehörtes urbanes Gewand kleiden. Vermischt mit Soul, Funk und Rock präsentieren sie sich von Anfang an sehr eigenständig. Ihr Spiel beruht auf wahnwitzige Ausbrüche, ruhige, sehr leise Strophen und immer wieder auf eingestreute Jams, Solis und Breaks. Allesamt sind sie hervorragende Musiker und das zeigen sie auch. Davos Lyrics sind tieftraurig, spiegeln seine innere Zerrissenheit und brodelnden Zorn wieder. Kein Wunder, hat der Gute doch eine schwere Kindheit zwischen Alkohol und Perspektivlosigkeit ertragen müssen.
Der erste Song, "Broken", beginnt mit einem ziemlich groovenden Gitarrenlick. Während er zu Beginn mit beiden Beinen auf der Erde steht, ist er im Zwischenteil leise, beinahe hypnotisch um dann wieder, nach einem Bluessolo aufs Neue auszubrechen. Davo brüllt zum Ende seine ganze Frustration hinaus.
"Mad World" ist ein reichlich schräger Blues, in dem zwei Gitarrenspuren immer wieder gegenläufig einen ziemlich bedröhnten Sound erzeugen.
Der dritte Song ist gleichzeitig schon mein persönlicher Höhepunkt der Platte: "Burn Baby".
Zu Beginn erzählt Davo die Geschichte sehr deltablues-mäßig. Dann folgt der erste Break, der zum Refrain führt. Nach der zweiten Strophe wieder ein Break. Und jetzt bricht die Hölle los. Ein dermaßen präziser Trommelwirbel, knallhart über eine Minute gehalten, dazu Davos verzweifelt gebrülltes "Burn motherfucker" schickt einen direkt auf die Matte, so zwingend und intensiv ist es.
"Vesper" ist ein wunderschöner Song, von Violine und Piano mitgetragen. Und er enthält einen fast schon parolenhaften Ausspruch: "We are all slaves to the truth". Das bringt Davos Lyrics allgemein sehr treffend auf den Punk: Ehrlichkeit und Hingabe!
"Sheila's Song" ist ein groovender Bastard aus Funk und Soul, der wahrscheinlich griffigste Song auf der Platte. Vielleicht weil er ein wenig an die Chilli Peppers erinnert.
"The Seed", einer der längsten Songs der Platte, ist wieder ein beinahe reinrassiger Blues. Zu Beginn sehr ruhig. Aber textlich ein Hammer: "Look at me / stare / come on, daddy, fuck me / if you dare / can’t you see / I’m crazy / yeah sugar daddy / I’m gone". Nach und nach setzen die zweite Gitarre und das Schlagzeug ein. Und während die Instrumente weiterhin ruhig bleiben, wird Davo immer lauter. Dann ein Break und es ist wieder wie zu Beginn. Danach wieder ein Ausbruch, dieses Mal ein kollektiver.
"Damage" ist ein relativ unspektakulärer Song (von den sehr wütenden Lyrics natürlich abgesehen), bis in der Hälfte ein scharfer Break kommt, nachdem der Song plötzlich kurzzeitig von einer wilden Funkgitarre getrieben wird um dann wieder sehr bluesig (was für ein beschissenes Wort...) zu werden.
„Fear of Night“ ist ein melancholischer Bluesrocker, „So afraid“, der kürzeste Song, ist bedrohlich ruhig. Man wartet ständig auf den Ausbruch. Aber der kommt nicht.
„Venus Beach“ hätte auf „By the Way“ von den Chilli Peppers auch niemand überrascht (wenn Kiedis wirklich singen könnte). Ein eher konventioneller, deswegen nicht minder schöner Song.
„Enity“ funkt am Anfang wieder mächtig und ist eher im Stile von „Sheila’s Song“ gehalten. Verdammt, auch dieser Song hat wieder einen unwiederstehlichen Groove.
Der Schlusstitel „Using Your Guns“ ist der längste Song. Davo beginnt wieder mit einem Spoken-Word Erzählstil, während die Band ihn leise und unaufdringlich begleitet. In der Mitte gibt es ein kurzes Aufbäumen, nur damit es leiser als zuvor weitergehen kann. Gegen Ende geht es verträumt und sehr sphärisch weiter. Bis er ganz, ganz leise aufhört.
Die Platte hat ein bemerkenswertes Artwork. Wie man oben sehen kann, zeigt das Cover eine weinende Frau. Wenn man es aber ausklappt, entdeckt man einen Mann, der verdächtig nach einem gewissen Sohn Gottes aussieht, der auf der Innenseite seiner Unterlippe „Damage“ und auf seinen Fingern „Love“ stehen hat. Bühne frei für sämtliche Interpretationen.
Mother Tongue gingen nach diesem Album durch die Decke und schnurstracks auf eine Downward Spiral zu. Nach Erscheinen der Platte folgte eine Mammuttour in den USA, die Spannungen in der Band wurden immer größer bis zum Split 1996. In dieser Zeit folgte keine neue Platte. Der zweite Gitarrist Brian spiele ganz kurz mal bei den Peppers, aber sonst wurde es ruhig um die Band. Erst 2002 sollte wieder ein (wiederum fantastisches) Album namens „Streetlight“ erscheinen, auf dem deutschen Qualitätsindie Nois-o-lution. Mittlerweile hat sich sogar noch ein drittes dazugesellt und es sieht so aus, als würden sie uns noch eine Weile erhalten bleiben, denn beide Nachfolgealben sind geprägt von einem ausgesprochenen Optimismus. Live sind die Herren übrigens mindestens ein Mal im Leben Pflicht.
Ich habe in dieser Kritik bewusst jedes einzelne Lied besprochen, denn jeder Song ist ein Teil im Mosaik von Mother Tongue..
(Martin Weise)

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