|
Die neusten Kritiken findet Ihr auf dieser Seite. Später
werden sie nach Erscheinungsjahren archiviert.
1966 - 1967 - 1968
- 1969 - 1970 - 1971
- 1972 - 1974 - 1976
- 1979 - 1986 - 1989
- 1994 - 1996 - 1998
- 1999 - 2000 - 2001
- 2002 - 2003 - 2004
- 2005 - 2006 - 2007
- 2008 - 2009 - 2010
- 2011 - 2012 -
2013 - 2015 -
2016 - Aktuell
Cindy Lee - Act of Tenderness
| Circuit Des Yeux - In Plain
Speech | Faust - Something Dirty |
Gentle Giant - Octopus |
Temples - Sun Structures
Gentle Giant - Octopus (1.12.1972,
Vertigo) - LP
Zeit, eine Lanze für die beste Progressiv-Rock-Band aller Zeiten
zu brechen. Anders als ihre schwülstigen Zeitgenossen verloren
sich Gentle Giant nämlich nie in schallplattenseitenlangen Arrangements
oder ausufernden Solo-Egoismen sondern stellten ihr dennoch ausserordentliches
handwerkliches Geschick immer in den Dienst ihrer ausgeklügelten,
meist aber eher kurzen und daher auch kurzweiligen Songs. Ihre
Kompositionen sind meisterhaft, nicht nur im Sinne der
Komplexität, sondern im Sinne der Nahtlosigkeit. Für mich
sind sie die Beatles des Progrocks, denn die Songs hören sich
an als wären sie mit Leichtigkeit aus dem Ärmel geschüttelt.
Die Noten, die Intonierung, der Einsatz von einem Irrsinn an
unterschiedlichen Instrumenten und der zwischen den Akteuren
wechselnde aber total
wiedererkennbare Gesang
wirken unglaublich natürlich. Fast jeder Song lässt einem
den Kiefer runterfallen. Rasant aber doch "richtig" schachteln
sich die unterschiedlichen Melodienschichten ineinander, die Taktarten
wechseln wie die Bienchen die Blüten und dabei wird eine unschuldige,
kindliche Spielfreude zelebriert, die gerade im sonst so ernsthaften
Progrock oft fehlt. Ihr Melodienreichtum und Geschmack ist einzigartig.
Gentle Giant sind völlig unvergleichbar. Sie
wechseln von traumzarter Harmonie zu schroffen polternden
Rock-Eskapaden und werfen immer wieder schräge Dissonanzen dazwischen,
als würden sie versuchen, ihrer eigenen Ernsthaftigkeit Knüppel
zwischen die Füsse zu werfen. Für mich aber
noch ein grosser Plusfaktor bei aller stilistischen Vielfalt ist ...
der fehlende Jazzfaktor. Ich mag Jazz einfach nicht und Gentle Giant
sind der Kammermusik sicher näher. Was ein Glück.
Der Stamm der britischen Band bestand aus den drei Shulman-Brüdern mit schottischen
Wurzeln, deren Vater, selbst Musiker, sie früh ermunterte unterschiedlichste
Instrumente auszuprobieren, was die Grundlage der unglaublichen Vielseitigkeit
der Band war. Auf einer ihrer Platten sind nicht weniger als 64 Instrumente
gelistet, die sie natürlich alle selbst spielten.
Die trostlosen kommerziell orientierten Versuche in der Zeit vor Gentle
Giant, liess sie bereits früh erkennen, dass es sie nicht erfüllte,
sich den Wünschen der Musikindustrie anzupassen. Wir müssen
ja an dieser Stelle nicht erörtern, dass kommerzielle Orientierung
Kunst tötet und diese Erkenntnis ist die Grundlage, die uns 5
unglaubliche Alben und 3 hervorragende Frühwerke schenkte.
Man rekrutierte nämlich zwei neue Multiinstrumentalisten, die
den Anforderungen der Brüder genügten (ein junger
Elton John, der sich als Sänger bewarb, fiel selbstredend durch,
hahaha) und los gings auf die Reise in das blühende Land der
Experimente. Nach drei Alben der Orientierungsphase, die allesamt
aber bereits ausgezeichnet sind, erreichten sie mit "Octopus"
erstmals den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft, der wenigstens bis
"Interview" von 1976 anhielt. "The Missing Piece"
von 77 markiert einen Wendepunkt, als der Druck der Plattenfirmen
wieder grösser wurde und sie tatsächlich doch wieder versuchten,
ihre Komplexität zu glätten und "besser" zu klingen
(wobei das genauere Ausführen des letzten Halbsatzes und warum
"besser" in Anführungszeichen steht, ein Buch füllen
könnte, so dass ich da jetzt nicht näher drauf eingehe).
Ich habe "The Missing Piece" als Kind aber dennoch ziemlich
gemocht und würde das heute noch als Grenzwerk einordnen, dem
man durchaus Gehör schenken darf, wenn man alle guten Alben schon
kennt und liebt. Danach allerdings ist Sense. Vor "Giant for A Day"
und "Civilian" sei gewarnt. Dann war aber nach 10 Jahren
auch Schluss. Auch Gentle Giant waren der Punk-Explosion zum Opfer
gefallen. Und das ist auch gut so. (Ralf, 15.10.20)
|
Circuit
Des Yeux - In Plain Speech (Thrill
Jockey, 19.05.2015) Circuit Des Yeux ist der Name unter dem die
unheimliche Folksängerin Haley Fohr ihre hauptsächlichen Musiken veröffentlicht.
Fohr ist gerade sowas wie 30 Jahre alt, bringt aber schon seit
mindestens 12 Jahren Platten heraus. Und nicht nur das: Sie komponiert
Soundtracks, ist an unterschiedlichsten Kunstprojekten beteiligt,
schreibt, spielt vorallem Gitarre und singt. Und zwar mit tiefer
Stimme!! Das klingt erstmal nicht besonders aufregend, aber
stellt euch vor, man spricht absichtlich tief, so als
wollte man sagen: "Hier spricht Dr. Mabuse!" (in den Vorschriften von
Kickin Ass heisst es: "Spare niemals an Insiderjokes!") und dann tut man noch
etwas Vibrato und Oper drauf und schon hat man das geradezu
furchterregende Gesangsempfinden, mit dem sich ausser Haley Fohr noch
kein junges Mädchen an die Öffentlichkeit gewagt hat. Aber auch
ausser der Stimme muss man sich bei Circuit des Yeux (Haley wohnt
übrigens in Chicago und spricht den französischen Bandnamen selber
ganz amerikanisch aus) erstmal einfinden. Das Klangbild ist variabel,
die Songs gehen eigene Wege, es gibt kein verfolgbares Patentrezept.
Vielleicht ist es mit experimentellem Indie-Folk am ehesten
umschrieben. Akkustikgitarre, Flöten, Geigen aber auch Elektronisches
werden zwar sehr homogen und höchst interessant, aber doch in dunklen
Klangbildern verwoben, die ein eher unangenehmes Gesamtgefühl
hinterlassen. Und darüber tönt diese schauerhafte Stimme. Für
Kickin Ass also eine Melange die aufhorchen lässt. über die
Qualität von Fohrs Werk streitet niemand. Die Indieprominenz buhlt um
ihre Beiträge. Als Beispiel sei nur Lee Ranaldo genannt, auf dessen
jüngstem Album sie auf einem Track mitsingt. Und sie kann auch live
noch was draufsetzen, das beweist, dass mit ihr was nicht in
Ordnung ist und sie daher für den Kickin Ass Geneigten noch
interessanter macht: Sie versteckt immer ihr Gesicht. Die Haare sind
wie ein Vorhang, so dass man quasi nichts von ihr sieht. Manchmal
trägt sie auch nen tiefgezogenen Hut oder irgendwelche
Stoffarrangements, aber das Gesicht ist immer weg. Ich weiss nicht,
warum sie das macht, weil auf Fotos und Interviews hat sie keine
Scheu, sich zu zeigen. Ich finde es jedenfalls zumindest merkwürdig.
Haley war übrigens die einzige Musikerin, bei der mir zu Ohren
gekommen ist, dass sie während des Corona-Club-Shutdowns sagte, dass Live-Streaming für sie nicht funktioniert. Ich zitiere:
"Each time we gathered together and each time I had the ability to
sing my songs, I felt my truest self communicating the realest parts
of me. And at the end of each event there was always someone there to
tell me 'I know.'" Ich wünsche mir mehr neue Musiker, wie diese Frau.
(Ralf, 13.10.20)
|
Cindy
Lee - Act of Tenderness (Maple Death Records, 2018) Patrick
Flegel's Drag-Cameo ist Musik, wie ich sie in dieser Kombination noch
nie gehört habe. Eigentlich ist es Pop-Musik. Aber die Gefälligkeit
wird mit dem Gesicht durch einen Stacheldrahtballen gezogen. Cindy Lee
ist äusserst schmerzvoll, für die Ohren
wie fürs Gemüt. Der ehemalige Gitarrist und Sänger der kanadischen
"Art-Rock"-Band
Women (Art-Rock bewusst in Anführungszeichen, um die
Verwendung des Etiketts von der Journaille zu kritisieren, weil ich es
einfach blamabel finde, wenn man keinen anderen Begriff für Musik
findet, die man eigentlich gerne abtun würde, weil sie sperrig ist und
weh tut und wo man nicht weiss wohin damit, der man aber die Qualität
widerwilligerweise nicht absprechen kann) zerrt uns mit sehr viel
bissiger Selbstironie durch seine quälenden Emotionen und tut dies mit
bislang nicht gekannter Drastigkeit.
Tatsache ist, dass Cindy Lee ein ausgeprägtes Gefühl für wunderschöne,
traurige Pop-Songs hat, die aber mit bitterer Dramatik verzerrt und
mit schneidend-klirrender Hoffnungslosigkeit unterlegt sind und daher
nie ausrechenbar, gewöhnlich oder eben einfach sind. Das ist definitiv
große Kunst - aber eben nicht Art im Sinne des modernen
Sprachgebrauchs. Ich kann mich noch an das Konzert von Peter
Brötzmann erinnern, in das mich Magnus einst geschleppt hat. Ich sass
da, neben mir lauter angegraute Jazzlieberhaber, zwischen schmuddlig
und Anzug .... und fanden das große Kunst, was der alte Sack da abzog.
In meinen Augen, als Jazzfremder, war das nichts als grober Unfug und
zwar in seiner vollendetsten Form, will heissen, sehr zu meinem
Entzücken. Aber es war grober Unfug, der totale Punk und Kunst, nach
meiner Auffassung, nur im Sinne der Idee, der Entkopplung vom
Einfachen, Geniessbaren. Magnus setzt mir ja heute noch entgegen, dass
ich das damals als "geiler Scheiß" bezeichnet hätte und nicht "grober
Unfug". Ist ja so quasi dasselbe. Cindy Lee ist ebenfalls grober
Unfug und geiler Scheiß gleichzeitig. Im Gegensatz zu den Jazzern gibt
es hier aber viel viel viel Gefühl, es gibt Höhen und Tiefen, mehr
Tiefen vielleicht und die von mir viel zitierten Ausbrüche, auch wenn
es bei Flegel wohl mehr Einbrüche sind. Wenn du auf einem
Plattenspieler schöne aber traurige Popmusik hörst und auf dem zweiten
Whitehouse, beides auf derselben Lautstärke. Und wenn du dann mal das
eine, mal das andere etwas lauter machst, dann hast du Cindy Lee.
Manchmal liegen die Melodien unter so einer tiefen Schicht von Lärm,
dass man sie kaum noch erahnen kann. Manchmal brechen sie hervor wie
ein Blümchen durch den dreckigen Beton und dann sieht man sie sofort
verzaubert an und ist eingefangen. Im Prinzip wird man beim Zuhören
durch den Fleischwolf gedreht. Das ist mal total kaputt und
magenumdrehend, mal herzzereissend, traurig, liebevoll derangiert,
dann einfach nur beissend, scheppernd, zerrend, klirrend, krachend,
langanhaltende Ohrenschmerzen hervorrufend. Ein Traum. Ich liebe ihn.
Es gibt nur 300 Exemplare der Euro-Pressung von Maple Death. Cindy Lee
hat bis heute zwei weitere Alben nachgelegt. (Ralf, 8.2.20)
|
Faust - Something Dirty (1.2.2012,
Cloud Hill) - LP
Eigentlich schreibe ich das hier nur, um loszuwerden, was mir letztens
über das 1997 in der Kölner Kantine stattfindende Konzert
von Faust erzählt wurde und das ich so noch nirgends erwähnt
gefunden habe. Zuerst aber etwas zur Zusammensetzung des Albums,
das eigentlich kein "richtiges" Faust-Album ist, sondern eine
Kollaboration mit dem britischen Indie-Rocker James Johnston (Gallon
Drunk) und seiner Frau
Geraldine
Swayne, ihreszeichens eher Malerin, die aber dennoch schon bei den
frühen Gallon Drunk Werken irgendwie immer mit am Ball war, ohne ein
Bandmitglied zu sein.
über Faust brauch ich nichts zu erzählen, denke ich mal. Aber auch
Johnston schätze ich als eigenständigen Musiker sehr, umso aufdringlicher
empfand ich eine zeitlang seine Omnipräsenz. Als ob er mit Gallon
Drunk nicht ausgelastet wäre, suchte er immer wieder die Kollaboration.
Warum? Auf der Suche nach Lorbeeren oder aus Geschäftstüchtigkeit?
Oder wurde er vielleicht sogar gefragt? Zuerst die Bad Seeds, dann Lydia Lunch, dann Faust, alles so schnell aufeinander
folgend. Und Faust haben ihn bestimmt nicht gefragt. Dass er heute auch noch mit PJ Harvey zusammenarbeitet, mag
ihn durchaus ehren, hat das schlechteste aller Harvey Alben aber leider
nicht bereichern können. ähnlich sehe ich das bei Faust.
Man mag ja nach allen Seiten offen bleiben, aber in meinen Augen ist
das eine reine Zweckallianz. Man profitiert voneinander und jeder tut
dem anderen eine breitere Fangemeinde auf.
Ist verständlich und akzeptiert - künstlerisch aber fahl.
Sie ergänzen sich nicht, sondern spielen nebeneinander. Man hört
den Unterschied der Songs die aus der Faust-Feder kommen und umgekehrt.
Klingt wie ne Split-LP. Dass sie in dieser Besetzung gemeinsam live
aufgetreten sind, hätte ich mir dennoch gerne angesehen, um mein
Urteil auf breiteren Boden zu stellen. OK, ich gestehe: Das ist Meckern auf
hohem Niveau. Johnston ist ein ausgezeichneter Musiker (als Maler ...
weiss nicht so recht) und er hat auch ein Rockstar-Standing. Ich hab
ihn sehr oft auf kleinen Bühnen gesehen. In den 90ern ist er bei
Gallon Drunk immer quer über alle Monitorboxen von der Bühne gefallen.
Oder seht euch mal das Video an, wo man die Tastatur seiner Orgel
sieht. Lauter zerdepperte Tasten und voll mit angetrocknetem Blut.
Sein Auftritt vor ein paar Jahren im King Georg gehört zu den Top Ten
aller Konzerte, die ich in den 2010ern gesehen habe. Also eigentlich
gebührt ihm die allergrösste Ehre und die Latte liegt wirklich an der
Oberkante. Aber genau daher erlaube ich mir, Something Dirty zu
kritisieren, weil ich verstehe nicht, was er von dem Franzosen will,
wenn er sich nicht richtig mit ihm zusammen tut. Ich bleibe dabei, das
ist quasi eine Seite Faust/Peron und eine Seite Gallon Drunk/Johnston.
Punkt!
Achja, ich schulde euch noch die Geschichte über Faust in der Kölner
Kantine, die mir kürzlich vom deren Booker Marcus Neu erzählt wurde.
Die Kantine is ja ziemlich gross. Da gehen bestimmt 800 Leute
rein. Peron kam morgens schon ganz früh und befestigte schwarze
Bindfäden an der kompletten Decke, die soweit runterreichten, dass
sie den Leuten ins Gesicht hingen. Beim Konzert zersägten sie dann
zuerst ein Gemälde mit einer mikrofonierten Kettensäge, dann stellten
sie eine Maschine in den Saal, mit dem die Bauern Spreu vom Weizen
trennen und pusteten damit den ganzen Laden voll, sodass der Staub
später noch in jeder Ritze in den Regalen hing. Und am Ende liessen sie
eine völlig überdimensionierte Ladung Trockeneis los, die den Saal
derart in Schwaden hüllte, dass die Leute Panik bekamen und vor die
Tür flüchteten. ALLE, ohne Ausnahme, sogar das Thekenpersonal und zwar
ohne Kasse, was verdeutlicht, wie extrem das gewesen sein muss. Die
Band merkte das aber gar nicht und spielte ihr Konzert ohne Publikum
zu Ende. Wenn das mal keine schöne Geschichte ist. (Ralf,
13.10.2020)
|
Temples
- Sun Structures (Heavenly, 10.2.2014) Tote Poprock-Musik mit 60-70s-Möchtegern-Referenzen,
die so erbrechenslangweilig ist und ein Gefühl hinterlässt, das etwa
so deprimierend ist wie ein schlaffer Händedruck mit einem lahmen
Milch-Brötchen. Die Temples sind mir schon 2013 in Köln negativ
aufgefallen, als sie mich auf einem Konzert versetzten, das ich nur
wegen ihnen besuchte und aufgrund ihrer Absage, drei Bands ertragen musste, die ich
am liebsten von oben bis unten vollgekotzt hätte. Das war einer dieser unsäglichen Intro-Abende im Gebäude 9,
wo die einem neue Bands vorstellen wollen. Die Templars sind ein
paar britische Modepüppchen, die es vielleicht in die Presse schaffen,
weil sie mit irgendwelchen dürren Modelsfreundinnen auf irgendwelchen
High-Society-Parties rumhängen und ekelhaften Sekt schlürfen. Ihre
Musik klingt aber genauso blutleer wie ihre ätzend-faden Pupsgesichter
aussehen. Aber bestimmt bin ich schon wieder Jahre hinterher und sie
machen zwischenzeitlich Elektro-Pop-Wave. (Ralf, 24.2.2020)
|
|